Analyse von Medien-Berichterstattung anhand eines Amoklaufes.
Niemand kann genau sagen, wann es wieder so weit ist, dass die Medien dank eines Amoklaufes in eine Deutsche Kleinstadt einlaufen und sich von Berichterstattern zu „mediengeilen“ Jägern, ob bei Tag, oder bei Nacht verwandeln. Das einzige, was sich jetzt schon abschätzen lässt ist das Vorgehen der Berichterstattung. Denn das, ja das scheint bei jeder „Großberichterstattung“ die gleiche zu sein, sodass auch viele andere wichtige Themen systematisch in den Hintergrund gerückt werden und vielleicht dadurch auch nicht mehr aufgegriffen werden.
Einsatzbesprechung Amoklauf #XX:
Ziel 1: Zeugenberichte
Nachdem der Moderator seine Aufgabe der Anmoderation erfolgreich abgeschlossen hat, wird „live“ zu dem Einsatzort geschaltet, bei dem von den Kamerateams meist irgendwelche belanglosen Orte gezeigt werden. Möglich sind auch Darstellungen von Karten der Stadt, oder des Ortes, wo sich die Tragödie abgespielt hat. Möglich sind zudem als minimal zu erreichender Bonus Stellungnahmen der Polizei, die aber niemals über Menschen reden, sondern immer über Personen. Das dass dem heutigen sabbernden Zuschauer, der alles bis ins kleinste Detail wissen muss, aber nicht reicht wissen wir bereits und so auch die Medienmacher. Also werden, auch noch so unwichtige Zeugen, die irgendwas gehört oder gesehen haben möchte vor die Kamera geschleift, um ihre Meinung oder ihr wissen abzufragen, dabei ist es auch scheißegal, ob die Menschen noch unter Schock stehen und vielleicht gar nicht in der psychischen Verfassung sind eine klare Aussage treffen zu können, Hauptsache der Zuschauer ist für Minuten befriedigt und dankt dem Sender mit Einschaltquoten. Eines meiner Lieblings-Statements ist zu dem: „Ich wär‘ da heute eigentlich auch gewesen, aber ich war gestern richtig dick saufen und hatte deshalb kein Bock in die Schule zu gehn‘.“ Sie werden diese Geschichte, aber nicht nur einmal erzählen, bis sich neue Infos finden, werden sie immer wieder die gleiche Leier vom Stapel lassen und die Medien werden es senden.
Ziel 2: Opfer
Zu allererst existieren sie nur als Zahl, 2 Verletzte, 3 Tote. Diese Zahl wird steigen, und sie soll es auch. Denn die Opferzahl ist es, sie ist die Kennzahl dafür, wie viel Interesse und Zeit wir in die berichtete Tragödie stecken sollen. Gleichzeitig ist es auch eine Kennzahl dafür, wie viele Journalisten Jäger die Nachrichtenagentur zur Berichterstattung abstellen wird. Beispielhaft kann man bei 3 Toten von etwa 30 Journalisten Jägern ausgehen. Die Zeugenberichte treten nun in den Hintergrund, denn sie wurden schon ausgelutscht, tausendfach interviewed, beschnitten und nochmal gesendet. Doch nun wird die Geschichte schon klarer und die Opfer treten immer mehr in den Vordergrund. Nun haben die Opfer Gesichter, Namen, Hintergrundinfos. Es wird ein Bild gezeigt, Freunde und Familie erklären vor der Kamera, was für ein wunderbarer Mensch der Verstorbene gewesen ist, wie viele Freunde, er oder sie auf Facebook hatte, wie viele Follower auf #Twitter und keiner kann die Tat verstehen, natürlich nicht, aber darum geht es den Berichterstattern auch nicht. Denn mit jedem Foto, jeder kleinen zerstörten Geschichte, wächst nur die von den Berichterstattern forcierte Aufmerksamkeit, die wir diesem Fall geben sollen.
Ziel 3: Helden
Nachdem man einen ersten Überblick hat, von den vielen Berichterstattungen schon ausdruckslos, wippend und nicht ansprechbar in Fötusstellung in der Ecke mit direkten Blick auf den Fernseher liegen, gibt man dem allgemeinen Zuschauer einen Knochen, einen positiven Funken, der uns wieder in die Geschichte zieht. Ja, es sind die Helden, die Helden, die sich dem Täter gestellt haben, die Sanitäter Sanitöter, die als erstes am Unfallort waren und noch versucht haben den Opfern zu helfen. Denn wir brauchen immer einen Helden, einen der uns zeigt, dass es auch in der betreffenden Stadt in unserem Land noch gute Menschen gibt.
Ziel 4: Täter
Jetzt denken wir, wir wissen alles, krank gemacht und wieder gesund und innerhalb eines Tages. Doch es fehlen uns noch wichtige Stücke, welcher kranke Pansen kam nur auf eine solche Idee? Wir wollen ihn sehen, wir wollen das Böse sehen, dass zu einer solchen Tat fähig war. Der Höhepunkt der Berichterstattung ist nun erreicht. Kurz vor Ziel werden wir aber noch an kurzer Leine geführt. Wir erfahren von der netten Oma nebenan, dass er ein netter zurückhaltender Kerl war, der ihr auch öfters ohne sie abzuzocken über die Straße geholfen hat. Andere Bekannte sagen, er sei schon immer ein Loser gewesen, einer ohne Freunde, der immer nur schwarz getragen hat, eingesperrt in seinem Zimmer stundenlang Minigolf und Spaceinvaders gezockt hat und natürlich auch keine Freundin hatte.
Ziel 5: Sündenböcke
Nun, da wir die Medien konstruierte Geschichte in ihrer ganzen Halbwahrheit vor uns haben, suchen wir und die Medien nach einem oder gleich mehreren Schuldigen. Ja, fällt dem kundigen Fernsehzuschauer auf, der Typ hat PC Spiele gezockt, war im Schützenverein, bei der Bundeswehr und hat zudem auch noch Heino gehört. Ganz klar, wir müssen den ganzen Driss verbieten, der eh nur unsere Kinder schädigt, machen wir gleich mehrere Generationen von Menschen zu potenziellen, nicht vertrauenswürdigen Massenmördern, die jederzeit austicken könnten, wenn, ja, wenn die Gesellschaft, bzw. die Politik daran nicht sofort was ändert.
Bonusziel 1: Rückblick
Die unvergessliche Tat dürfte für den einen oder anderen schon fast wieder vergessen sein, da bedienen sich die Medien zum zweiten Male daran, nämlich dann, wenn sich der freudige Jahrestag nähert. Es wird wieder in den Vordergrund gerückt, die unwirklichen chaotischen Berichterstattungen werden noch einmal sortiert, nachvollziehbar zusammengefasst, komprimiert serviert zum Frühstück oder Abendessen. Kritisch wird hinterfragt, was sich geändert hat. Ja, das wissen wir, meistens nichts oder zu wenig, aber das ist ja auch klar, wir und auch die Medien haben das Interesse verloren.
Bonusziel 2: Ausblick
Ja, und nachdem wir alles gefressen, ausgekotzt und noch einmal gefressen haben, entstehen Berichte, Berichte worüber man Berichten darf, worüber nicht und warum und wie die Medien falsch vorgegangen sind, versprechend sich zu bessern. Ja, und ganz am Ende, entstehen Berichte, ganz so, wie dieser hier.
Mission Accomplished
Der hier zu lesende Text wurde umgeschrieben von dem Original von Stefan Niggemeier namens „Am Anfang war die Tat“ (Fluter Nr. 08 September 2003 Seite 7-8)